Der Wahnsinns-Journalismus geht weiter
Die Bildzeitung steht als Synonym für Krawall-Schagzeilen und die meisten Menschen schmunzeln sehr oft darüber, wenn mal wieder eine Bild-Titelseite unsere volle Aufmerksamkeit bekommt, weil sie einfach sehr gut gemacht ist.
Den Bild-Titel “Wir sind Papst” kennt jeder. Dass jedoch das genaue Gegenteil der Fall ist (keiner von uns ist Papst), weiß auch jeder. Aber es ist, wie es ist: Ein guter Titel, ein spektakuläres Bild hebt die Quote beim Fernsehen, erhöht die Verkaufszahlen von Zeitungen. Gute Journalisten produzieren gute Schlagzeilen.
“Wärmedämmung – der Wahnsinn geht weiter” hieß gestern Abend der Teil 2 eines NDR-Beitrages, der erneut beweisen wollte, dass wir dringend die Finger von Wärmedämmverbundsystemen aus Polystyrol lassen sollten. Schon vor einem Jahr wurde unter dem Titel “Wahnsinn Wärmedämmung” dieselbe Aussage lautstark in Szene gesetzt: Wärmedämmung aus Polystyrol brennt so schnell, dass alle, die in solchen gedämmten Häusern wohnen, ab sofort in Angst und Schrecken leben: “An vielen Wänden tickt eine Zeitbombe”.
Wer solche Sätze in eine Reportage einwebt, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass es hier nicht um vernünftige Aufklärung, sondern eben nur um Quote geht. Jetzt haben wir also auch schon den Sensations-Journalismus im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Meine Rundfunkgebühren würde ich gerne auf einer sachlichen Ebene eingesetzt sehen. Gerne pro und contra. Aber bitte nicht nur contra.
Es fällt schwer, auf die Flut der dramatisch inszenierten und mit polemischen Zitaten garnierten Bilder von brennenden Fassaden sachlich zu antworten. Eines vorab klargestellt: Jeder einzelne Wohnhausbrand ist dramatisch und soll nicht klein geredet werden. Doch wenn man schon die zehn oder zwanzig Brände von Fassaden, die mit Polystyrol gedämmt wurden, auflistet, sollte man auch aufzeigen, dass es den Anwendungstechnikern, Produktentwicklern, Architekten und Ingenieuren gelungen ist, eben die Anzahl der Brände winzig klein zu halten. Konkret: In Deutschland brennt es laut Statistik rund 200.000 mal im Jahr. Zehn Brände pro Jahr sind gerade mal 0,005 Prozent. Vermutlich ist das Risiko, vom Blitz getroffen zu werden, größer.
Die NDR-Redakteure, die sowohl für die Sendung vor einem Jahr als auch für die gestrige Sendung verantwortlich sind, haben sich nun geoutet: Sie wollen buchstäblich eine Fackel in Richtung energetische Modernisierung werfen. Der Grund dafür bleibt schleierhaft. Da ich selbst über 200 TV-Beiträge gemacht habe, weiß ich, wie Fernsehen funktioniert. Stellen Sie sich mal Folgendes vor: Eine Bausituation, bei der alles schief läuft: Die abgehängte Decke kommt runter, die Türzarge fällt auseinander, die Wasserleitung platzt. Eine Szene wie bei Dick und Doof.
Im Raum stehen fünf nachdenkliche Handwerker. Die Sprecherstimme sagt: “Die Deppen vom Bau haben mal wieder ganze Arbeit geleistet”. Wir sitzen vorm Fernseher und kichern uns einen, während wir einen Schluck aus der Pulle nehmen. Und jetzt ACHTUNG: Stellen Sie sich bitte folgenden, anderen Satz vor, den die Sprecherstimme sagt: “Da stehen Sie nun, die Vollprofis vom Bau, die dieses Chaos in nur einer Stunde sortiert und spätestens am nächsten Tag beseitigt haben.” Wir würden diese Mannschaft bewundern, wären gerne ein Teil dieser starken Truppe. Welche Macht doch so eine Sprecherstimme hat. Sie ist stärker als das Bild, das wir sehen.
Zurück zum Wahnsinn Wärmedämmung: In dem Film gestern wurden viele bereits gesendete Bilder aus dem ersten Teil gezeigt. Ja, ist denn zwischenzeitlich nichts mehr passiert? Gut, es gab einen neuen Brand am 29. Mai 2012. Aber hätte da die Sprecherstimme nicht sagen sollen, dass dieser Brand zwar sehr dramatisch war, aber es waren eben nicht hunderte oder tausende Brände – es war EIN Brand. Wieviele Verkehrsunfälle und Massenkarambolagen gab es in den vergangenen zwölf Monaten? Eine, zwei ...? Das Auto abschaffen, weil es eine Zeitbombe ist?
Für mich war der Beitrag ein Werbefilm für und nicht gegen Wärmedämmverbundsysteme aus Polystyrol. Ich bin gestern Abend mit der Gewissheit schlafen gegangen, dass die Entscheidung, dass ich mein Haus mit Polystyrol-Dämmplatten gedämmt habe, richtig war. Nicht nur, dass ich sehr viel Energie spare und meinen Teil zum Klimaschutz beitrage, nicht nur, dass ich seit der Dämmmaßnahme in einem sehr behaglichen Haus wohne, in dem ich auch nach intensiver Suche keinen Schimmel finden kann.
Zusätzlich weiß ich auch, dass die neuerdings oftmals hochgekochte Diskussion um die “Brandgefährlichkeit” von Dämmplatten tatsächlich Stimmungsmache von Einzelnen ist. Genauso wenig wie wir Papst sind, leben wir in brandgefährlichen Häusern.
Ich habe kürzlich “Upps, die Pannenshow” gesehen: Da ist bei Tante Marthas siebzigstem Geburtstag der festlich gedeckte Tisch zusammengebrochen und der Hund, der eigentlich ein Kunststück vorführen sollte, ist in der Torte gelandet. Was schließen wir daraus? Wir richten keine Geburtstagsfeiern mehr aus und schaffen alle Hunde ab. Nein. Im Ernst: Ich würde gerne eine sachliche Diskussion zum Thema energetische Modernisierung führen und tatsächlich die Vor- und Nachteile, die Wirtschaftlichkeit und die Ökologie der Dämmstoffproduktion bis zum Recycling diskutieren, um als Bauingenieur vernünftig beraten zu können.
Doch dafür brauchen wir belastbare Zahlen, die man in eine gesunde Relation rückt. Wir haben damals im Studium gelernt, dass man bei der Produktion von Waren in Kauf nimmt, dass eine bestimmte Menge der Produkte Fehler haben darf. Denn das perfekte Produkt, das hundert Prozent fehlerfrei ist, gibt es einfach nicht. Oder anders herum: Wenn es dieses Produkt geben würde, wäre es so teuer, dass es niemand kaufen könnte.
Das heißt im Umkehrschluss: Wenn eine 45-Minuten-Reportage über die Gefährlichkeit von Wärmedämmung sehr viele alte Bilder und Szenen zeigt und immer wieder dieselben zwei, drei Architekten zu Wort kommen lässt, dann heißt das im Klartext, dass bei einer Wärmedämmung die Fehlerquote fast bei Null liegt. Das ist ein 1-A-Zertifikat.
Es gibt immer wieder die Behauptung, Wärmedämmung würde sich nicht rechnen. Das sagen aber nur Leute, die noch nie nachgerechnet haben. Es ist für eine aufgeklärte Welt unglaublich, dass man einem der wenigen Produkte, das sich tatsächlich rechnet, nachsagt, es würde sich nicht rechnen. Genauso, wie auch in der Sendung von gestern Abend fast die Hälfte der Sendezeit über die Wohnungslüftung gesprochen wurde (offenbar hatte man tatsächlich zu wenig Negatives über Wärmedämmung zusammentragen können, und musste noch ein weiteres Fass aufmachen).
Die aberwitzige Floskel, dass eine Fassadendämmung das Haus dicht machen würde und man deshalb eine Lüftungsanlage brauche, wurde in technisch absurde Zusammenhänge gestellt und von einem Architekten so kommentiert, dass dies vielleicht Tante Martha glaubt – technisch versierte Menschen schütteln nur den Kopf.
Das einzige Thema, das man tatsächlich diskutieren muss, ist die Sache mit den Algen. Auf gedämmten Fassaden können sich Algen bilden. Das vorliegende Zahlenmaterial und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen sind aber meines Erachtens zu wenig, um eine Pauschalaussage gegen Wärmedämmung treffen zu können. Hier würde ich mich sehr gerne auf eine sachliche Diskussion einlassen.
Doch bereits an dieser Stelle muss Folgendes betont werden: Genauso, wie es ungespritzte Äpfel gibt, kann man auch biozidfreie Fassadendämmsysteme kaufen. In unserer Kleidung, im Haarschampoo und vermutlich noch in Millionen anderen Produkten steckt aus unterschiedlichen Gründen sehr viel Chemie. Wollen wir wirklich alles dies verteufeln? Wann kommt die Reportage “Wahnsinn Wintermantel?” Denn Wintermäntel brennen auch. Und bei irgendeiner Silvesterfeier wird sich schon einer irgendwo entzünden.
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