Ronny Meyer

Ein Verzicht auf Wärmeschutz ist das Gegenteil von Fortschritt

Ronny Meyer, 22. März 2016

„Bundesumweltministerin Barbara Hendricks hat die Ergebnisse der Bürgerbeteiligung zum Klimaschutzplan 2050 in Empfang genommen“, ist in einer Pressemitteilung des Bundesbauministeriums vom 19.03.2016 zu lesen.

Am selben Tag stand bereits in der WELT, die Bundesregierung plane ein „radikales Gesetz zum Klimaschutz 2015“, nachzulesen unter: http://www.welt.de/wirtschaft/article153461517/Deutsche-Wirtschaft-fuerchtet-sich-vor-Oeko-Diktatur.html. 

Begriffe wie „Öko-Diktatur“ und „Giftliste“ werden verwendet, der Tenor ist eindeutig, auch wenn in diesem Szenario selbst vor der heiligen Kuh, dem Auto, nicht halt gemacht wird. Doch anstatt dass wir jetzt erneut unseren technischen Fortschritt nutzen, endlich den Klimaschutz ins Visier nehmen und die Milliarden an Fördergeldern in unsere Häuser stecken, beginnt schon wieder das Zerreden einer im Kern guten Sache. Kritik ja, aber bitte sachlich. Bevor nun vermutlich schon bald die nächste Anti-WDVS-Welle über uns hereinschwappt, hier vorsorglich ein paar ganz interessante Fundstücke:

Kürzlich fiel mir nämlich beim Sichten meiner Architekturbücher nach Jahren mal wieder die „Bauentwurfslehre“ von Ernst Neufert in die Hand. Dieses Buch – meine Ausgabe stammt von 1978, 30. Auflage – ist das weltweit verbreitetste Nachschlagewerk für konsequente Normung und Bauplanung – quasi der „Bau-Duden“: bis heute unverzichtbar im Alltag von Architektur- und Ingenieurbüros. 

Ein paar Stunden später dann der nächste Fund: „Ernst Neufert – Styropor-Handbuch – Dämmung im Hochbau aus Sicht des Architekten dargestellt am Beispiel von Schaumstoffen aus Styropor“. Erstaunlich: Schon Die „Bauentwurfslehre“ und das „Styropor-Handbuch“ lieferten klare Antworten zum Thema Wärmedämmverbundsystem und zur immer noch anhaltenden Medienkritik.

Die erste Auflage des Styropor-Handbuchs stammt vom September 1963. Bereits im Vorwort die Erkenntnis: „Die Bauten der Vergangenheit wurden errichtet mit Baustoffen, die alle wünschenswerten Eigenschaften einer Wand-, Dach- oder Deckenkonstruktion mehr oder weniger gut in sich vereinigten. In unserer Zeit – also 1963 – sind die Allround-Baustoffe abgelöst worden durch Kombinationen von Spezial-Baustoffen gezielter Sondereigenschaften.“

Der Baustoff Polystyrol – „Styropor“ ist ja ein Markenname – wird bereits 1963 als „Baustoff mit größtem Anwendungsbereich, der als Wärmeschutz in fast allen Bauteilen eingesetzt werden kann“ beschrieben. Jahrzehntelang war dann alles in Ordnung, es wurden hochwertige Wärmedämmverbundsysteme montiert. Doch dann – nach fast 50 Jahren – wurden plötzlich Polystyrol und der Dämmung insgesamt der Kampf angesagt.

Funktioniert nicht! Schimmelt! Ist zu teuer! War die Dämmung etwa ein Irrtum? Ernst Neufert gab schon damals die Antwort: Es „müssen dem sorgfältigen Architekten, auch dem älteren, dem noch nicht die neuesten physikalischen Erkenntnisse bei seinem Studium vermittelt werden konnten, die technischen Zusammenhänge nahegebracht werden, in einer bewusst anschaulichen und verständlichen Sprache, ohne den wissenschaftlichen Grund zu verlassen.“ 

Das scheint bis heute nicht vollständig gelungen zu sein. Denn in einem der ersten dämmkritischen Beiträge, einem FAZ-Artikel vom November 2010, schreibt ein Architekten-Kollege von Neufert wörtlich, dass ein „Vollwärmeschutz das Gegenteil von Fortschritt“ sei.

Einfach mal bei Ernst Neufert nachgelesen: Beim Wärmedurchgang durch ein Bauteil wird die Wärmemenge, die durch ein Bauteil hindurchfließt, von der Temperaturdifferenz zwischen innen und außen und dem Widerstand bestimmt, den das Bauteil dem Wärmedurchgang entgegensetzt. Dort spielt die Dämmung die entscheidende Rolle.

Energiesparen ist das eine, Behaglichkeit das andere, die in beheizten Räumen auch von der Oberflächentemperatur der Raumbegrenzung abhängt. Je kälter die Oberfläche der Außenwände ist, umso mehr Wärme gibt der Mensch durch Abstrahlung an die kalten Raumbegrenzungen ab. Zitat Neufert: „Je besser eine Wand gedämmt ist, umso niedriger kann die Lufttemperatur im Raum sein.“ Energieeinsparung und Behaglichkeit ist doch das, was wir anstreben.

Damals wie heute. Und das geht nur mit gedämmten Bauteilen. Also ist der Verzicht eines Vollwärmeschutzes ein Irrtum, das Gegenteil von Fortschritt. Interessant auch, wie Ernst Neufert vor über 40 Jahren die Wirtschaftlichkeit von Wärmedämmverbundsystemen berechnete: Anfang der siebziger Jahre hatte er mit einem Heizölpreis von umgerechnet 8 Cent pro Liter kalkuliert und die Kosten für ein 5-Zentimeter-Styropor-WDVS bei umgerechnet rund 32 Euro angesetzt. So kam er auf eine Amortisationszeit von 7,9 Jahren.

Heute ist die Relation zwischen Kosten und Einsparung zwar deutlich günstiger. Dennoch könnten Kritiker hier einen berechtigten Einspruch erheben: Das „Styropor-Handbuch“ ist damals nämlich unter Mitwirkung „zahlreicher Berater des technischen Dienstes“ der Firma BASF entstanden, einem großen Polystyrolhersteller. Kritiker könnten nun entgegnen, dass Neufert nicht unvoreingenommen ans Werk gegangen sein könnte und manches eventuell sogar „schöngerechnet“ sei.

Die Antwort wäre eine Gegenfrage: Sind Physik, Mathematik und Normung diskutierbar oder verdrehbar? Alle Berechnungen werden im Buch nachvollziehbar dargestellt. Man müsste schon konkret einzelne Punkte oder Rechenwege ansprechen und kritisieren, um darauf gezielt antworten zu können. Warten wir also ab.

Konkret wird weiterhin auch häufig die Notwendigkeit einer luftdichten Gebäudehülle in Frage gestellt. In dem bereits zitierten FAZ-Artikel wurde 2010 von einer „Hysterie des Abschottens“ geschrieben: „Jedes Kind bekommt mit strengen Worten gesagt, dass es, wenn es sich eine Plastiktüte über den Kopf zieht, keine Luft mehr bekommt und stirbt. Für Häuser gilt im Prinzip das Gleiche.

Nichts rein- und nichts rauslassen, Abschottung, Käseglockenideologie: Der Vollwärmeschutz zeichnet schon auch das kollektive Psychogramm einer Gesellschaft, die vor Eindringlingen und Infektionen panische Ängste hat. Allerdings kollidiert genau diese hysterische Abschottung gegen alles, was von außen kommt, mit einer anderen kerndeutschen Urangst: der vor dem Schimmel.“

Da wurde und wird sehr viel durcheinander geworfen. Im „Styropor-Handbuch“ steht auf Seite 423 unter der Überschrift „Maßnahmen zur Verhütung von Tauwasser“ die Antwort: Eine „genügend hohe Wärmedämmung“. Das wussten wir also schon vor 50 Jahren. Polystyrol hat Wasserdampfdiffusionswiderstandwerte, die ähnlich sind wie Nadelholz. Die Konstruktion ist auch im gedämmten Zustand dampfdiffusionsoffen. Es ist keine Abschottung. Im Gegenteil: Eine Wärmedämmung ist gleichzeitig auch ein Feuchteschutz.

Nachsatz: In der „Bauentwurfslehre“ sind die Grundlagen des Wärmeschutzes aufgezeigt, die sich bis heute nicht verändert haben. Seit 1963 hat sich aber bei Dämmstoffen viel getan. Heutiges Polystyrol dämmt besser und ist umweltfreundlicher gegen Brand geschützt, Mineralfaserdämmstoffe kommen ohne lungengängige Fasern aus und Dämmstoffe aus nachwachsenden Rohstoffen haben zu Recht ihren Platz gefunden. Kurz: Mit Polystyrol zu dämmen, ist heute noch vernünftiger als vor 50 Jahren, da die Systeme noch besser geworden sind. Und wer lieber auf einen anderen Dämmstoff setzt, hat hierfür viele hochwertige Alternativen.

 

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